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Mathematische Klassifizierung PDG

 figure383
Abbildung 8:  

Wir beschränken uns auf die Diskussion der linearen partiellen Dgl. 2. Ordnung

(1.8)

deren Koeffizienten A, B, C, D, E, F, G alleine Funktionen der unabhängigen Variablen (x,y) sind. Es soll untersucht werden, unter welchen Umständen man mit Hilfe bekannter Lösungen i = (xi , yi) zu weiteren vielleicht sogar sämtliche Lösungen eines Integrationsgebietes gelangt. Die Integration von gewöhnlichen Dgl.\ 2. Ordnung erzeugt bekanntermaßen zwei Integrationskonstanten und '. Sind diese in Form von sogenannten Anfangsbedingungen an einer Stelle x = xo gegeben, so läßt sich in der Umgebung von xo aus der Dgl. berechnen. Es ist daher klar, daß zur Integration einer partiellen Dgl. 2. Ordnung in einer Umgebung von Po(xo, yo) die drei Größen (Po), x(Po), y(Po) notwendig sind. (Mit der Anzahl der unabhängigen Veränderlichen hat sich im Vgl. zu gewöhnlichen Differentialgleichungen auch die Anzahl der Integrationsrichtungen um eins vermehrt.)

Angenommen = (x,y) sei die allgemeine Lösung der partiellen Differentialgleichung. Diese Lösung beschreibt eine Fläche im Variablenraum, auf der sich Raumkurven auftragen lassen (Abb. 8).

figure407 Einen ersten "Lösungsstreifen" auf dieser Fläche erhält man zu einer Kurve C = ((x, y) y = y(x)), an deren Punkten die drei Größen , x, y gegeben sind. Der Streifen darf natürlich keine Knicke enthalten, weswegen die Werte der partiellen Ableitungen x und y über C stetig ineinander übergehen sollen. Das bedeutet, daß x und y auf C stetig differenzierbar sind, man verfügt also zusätzlich über bekannte Werte

figure417 Nach der Kettenregel sind hiermit die rechten Seiten der Gleichungen

(1.9)

(1.10)

bekannt. Die Gleichungen (1.8) bis (1.10) stellen ein lineares Gleichungssystem (1.11) zur Bestimmung der Unbekannten partiellen Ableitung 2. Ordnung (xx, xy, yy) dar.

(1.11)

Solch ein Gleichungssystem ist natürlich nur dann eindeutig lösbar, wenn die Determinante der Koeffizientenmatrix von null verschieden ist. Andernfalls sind die Zeilen- bzw. Spaltenvektoren dieser Matrix linear abhängig und es treten ganze Scharen von Lösungen auf.

Die Werte (x0, y0), x (x0, y0) ... yy (x0, y0), zu einem Punkt R'(x0, y0) bestimmen ein Flächenelement 2. Ordnung zum Konvergenzpunkt R(x0, y0, 0)

figure480

Durch sukzessives aneinanderreihen solcher ``Lösungscluster'' von aus ergibt sich eine Näherung der Lösungsfläche.

figure480 Eine noch genauere Fortsetzung der Lösung von einem Punkt zu einem Punkt außerhalb von erhält man durch die Taylorreihenentwicklung von . Sofern die Stetigkeit der Funktion höherer Ordnung gegeben ist, notiert man

Alle darin auftretenden höheren Ableitungen von lassen sich dann in Analogie zu (1.11) durch schrittweise Differentiation der partiellen Dgl. finden. Man benötigt lediglich die Werte xx, xy, yy aus dem vorhergehenden Schritt (1.11).

Nochmaliges partielles Ableiten nach x führt beispielsweise auf das Gleichungssystem:

(1.12)

Die Koeffizientenmatrix ist stets dieselbe. Daher reduziert sich die Aufgabe auf die Formulierung der Bedingungen, unter denen bekannte Werte , x, y zur Bestimmung der partiellen Ableitungen 2. Ordnung ausreichen.

Verwendet man die Cramerregel, so stellen sich die Lösungen des Gleichungssystems wie folgt dar:

(1.13)

wobei

Man unterscheidet zunächst zwischen den Fällen:
a)
4 0: Es existiert für (1.11) in jede Richtung (dx, dy) von R' aus genau eine Lösung. Der Punkt R' heißt dann elliptischer Punkt. Sollten zudem alle anderen Punkte des Integrationsgebietes elliptische Punkte sein (z.B. für konstante Koeffizienten A, B, C), so nennt man die Differentialgleichung elliptisch. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß die Gestalt des Lösungsvektors (xx, xy, yy) von der Richtung abhängt, in der man die Lösung fortsetzen will, und für gewöhnlich in alle Richtungen eine andere ist. Deutlich ist zu erkennen, daß sich die in einem Punkt P (etwa in Form einer Anfangsbedingung) gespeicherte Information in alle Richtungen zur Fortsetzung der Lösung eignet. Sie breitet sich über das gesamte Integrationsgebiet S aus und erzeugt dadurch in jedem Punkt ihren Anteil der Gesamtlösung . Die Gesamtlösung zu einem festen Punkt (xi, yj) aus S erhält man durch Auswerten der Superposition aller (durch Rand- und Anfangsbedingung) induzierten Lösungsanteile an diesem Punkt. Hieraus folgt, daß eine ``unendlich lange'' Randbedingungskurve C (= offenes Integrationsgebiet) unendlich viele Lösungsanteile erzeugen würde. Eine eindeutige Lösung wäre in keinem Punkt außerhalb der Randkurve zu ermitteln.


picture599

Die Existenz eindeutiger Lösungen setzt also voraus, daß sich die Orte gegebener Randbedingungen zu einer endlich langen somit geschlossenen Kurve C aufreihen. Die in Kapitel 1.2 besprochenen Gleichgewichtsprobleme werden also durch elliptische Dgl. wiedergegeben.

b)
4 = 0: Das Verschwinden der Koeffizientendeterminante ist verknüpft mit der Existens reeller Nullstellen der in dy/dx quadratischen Gleichung

(1.14)

In Abhängigkeit des Wurzelarguments heißt eine partielle Differentialgleichung:

Im parabolischen und hyperbolischen Fall existieren also ausgezeichnete Richtungen y'1,2 R, für die die Koeffizientendeterminante aus (1.11) den Wert null annimmt.

Dringt man von irgendeinem Punkt R' auf C aus in dieser Richtung in das Integrationsgebiet ein, so ist das Gleichungssystem (1.11) nicht mehr eindeutig lösbar. Eventuelle mehrdeutige Lösungen sind an Nullstellen aller Zählerdeterminanten nach (1.13) gebunden. Hierbei genügt es, die Nullstellen von nur einer weiteren Determinante aufzusuchen.

 4 = 0 ist gleichbedeutend mit der linearen Abhängigkeit der Spaltenvektoren.

kurz

Aus

Hiermit schließt man für

und ebenso 1 = 0.

Wir wollen das von uns gewählte Beispiel genauer ausführen. Hierzu lösen wir zunächst das Gleichungssystem (1.11) auf:

also

(1.15)

sowie aus

(1.16)

Das Gls. (1.17) enthält keine weiteren Unbekannten, da sämtliche Glieder über dem Bereichsrand C bekannt sind (s.o.). Um einen Widerspruch zu vermeiden, müssen (1.15) und (1.16) identisch erfüllt sein. Der Beweis ist leicht. Man führt zunächst formal die beiden Unbekannten und ein und notiert (1.17) vektoriell.

(1.17)

Das Gls. (1.17) ist also unter der Voraussetzung 2 = 0 ( 1.16) tatsächlich identisch erfüllt. Die gesuchten Bestimmungsstücke xx, xy, yy des Lösungsclusters erhält man wie üblich aus

Hierbei kann eine der partiellen Ableitungen 2. Ordnung stets frei gewählt werden, da die Dgl. in dieser Richtung keine zusätzliche Bedingung an die Wahl der xx, xy, yy stellt. Weist man der frei wählbaren Größe vorab einen konstanten Wert (z.B. null) zu, so verbleibt im parabolischen Fall eine Lösung. Für hyperbolische Differentialgleichungen besitzt (1.11) wegen y'1 y'2 zwei verschiedene Lösungen.

 figure773
Abbildung 9:  

Man erhält somit von einem Punkt R' auf C aus zwei Clusterketten (Abb. 9), die in das Integrationsgebiet eindringen; eine in Richtung (dx; y'1 dx), die zweite in Richtung (dx; y'2 dx). In der Praxis benutzen wir die Gesetzmäßigkeit, wonach sich Information entlang der Charakteristiken ausbreitet, zur Fortsetzung einer Lösung.

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Abbildung 10:  

Da sich typengleiche (i - j) Charakteristiken nicht schneiden, typenverschiedene (- ) jedoch einen Schnittpunkt besitzen, sind zur Bestimmung der Lösung im Punkte A lediglich die beiden dort zur Deckung kommenden Cluster zu überlagern (siehe auch Kapitel 1.2). Sollte die Kurve, auf der die Anfangswerte gegeben sind, selbst eine Charakteristik sein, ist die Lösung nur über C selbst eindeutig. In diesem Falle läßt sich zu den gegebenen Anfangswerten kein ``Informationsschnittpunkt'' finden.

 figure787
Abbildung 11:  

Es ist sinnvoller, die mathematische Klassifizierung einer PDG direkt auf die unabhängigen Variablen zu beziehen. Die Impulsgleichungen der ebenen Grenzschicht (1.6) beschreiben ein Ausbreitungsproblem von parabolischem Typ. Ihre Charakteristiken verlaufen entlang der Linien senkrecht zur Hauptströmungsrichtung.

 figure797
Abbildung 12:  

Der Grenzschichtaußenrand ist Anfangs- und Randbedingungskurve zugleich, die Plattenfläche ist dagegen nur Randbedingungskurve.

Das Geschwindigkeitsprofil an einer Stelle xs berechnet sich aus den Anfangswerten in den stromaufliegenden Punkten auf dem Grenzschichtaußenrand und den Randbedingungen quer zur Hauptströmungsrichtung. Die hieran anschließenden Profile haben keinen Einfluß. Die Lösung pflanzt sich in Hauptströmungsrichtung vom GS-Außenrand beginnend senkrecht zu den charakteristischen Linien zu stromabliegenden Profilen fort. Man bezeichnet x auch als die einseitig gerichtete Koordinate des Problems. Eine Störung in S erreicht das Geschwindigkeitsprofil zu x0 im Punkt Q und breitet sich von dort aus entlang der zweiseitig gerichteten Koordinate y über das ganze Profil aus. Präziser formuliert ist die DGL parabolisch in Richtung der Hauptströmungskoordinate x und elliptisch in Richtung der Querkoordinate y.

Die Zeit ist immer eine einseitig gerichtete Variable, zukünftige Ereignisse vermögen gegenwärtige nicht mehr zu beeinflussen. Eine einseitig gerichtete Raumkoordinate erscheint zunächst unsinnig. Mit ihr ließen sich zwar die einseitig gerichteten konvektiven Prozesse beschreiben, nicht jedoch diffusive Prozesse, da diese a priori zweiseitig gerichtet sind. Wir erinnern daran, daß die Glg. (1.6) nicht die vollständige Impulsbilanz wiedergibt, sondern nur eine Näherung, deren Güte mit wachsender Reynoldszahl steigt. In diesem Fall spielen nach dem Grenzschichtkonzept sämtliche Zähigkeitskräfte mit Ausnahmen von eine untergeordnete Rolle, weshalb die Hauptströmungskoordinate x zur einseitig gerichteten Koordinate wird. Die Strategie einer sich von den Anfangswerten der Geschwindigkeit am GS-Außenrand entlang der einseitig gerichteten Koordinate x ausbreitenden Lösung scheitert jedoch offensichtlich für Grenzschichten mit Ablösung.

 figure809
Abbildung 13:  

Es treten partielle Rückströmgebiete im wandnahen Bereich auf, womit ein derartiges Profil gewissermaßen zwei Hauptströmungsrichtungen besitzt.


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Benjamin Gilde
Sat Dec 16 15:24:45 CET 2000